Friday, 6 January 2012

Erich Kästner - "Gegensatz und Widerspruch" - Museum Festival 2012


Erich Kästner Museumsfestival 2012 „Gegensatz und Widerspruch“
mit Jahrestagung der Erich Kästner Gesellschaft

Ein Museum ist heute ein lebendiger Ort – neben seinen zentralen Aufgaben, zu sammeln und zu bewahren, offeriert es eine Begegnungsplattform für heterogene Generationen und spricht Menschen mit unterschiedlichster Bildung an. Es ist ein Ort, an dem sich Wissenschaft mit Pädagogik und Bildung mit Unterhaltung verbinden. Ein edutainment centre. Zudem ist das Museum eine Non-Profit-Organisation, die dennoch einen hohen kulturellen und gesellschaftlichen Gewinn erzielt, ein Stück Gedächtnis unserer Kultur lebendig und sichtbar hält. Ohne Museen wäre unsere Gesellschaft arm dran. Heute müssen sich Museen im Blickpunkt der Öffentlichkeit bewegen und sich zunehmend innerhalb unserer Leistungsgesellschaft behaupten. Sie stehen im Wettbewerb um Besucher und in Konkurrenz mit anderen musealen Einrichtungen. Das Museum muss Menschen heute bei ihren Bedürfnissen „abholen“, denn Informationen sind für jeden vergleichsweise leicht zugänglich geworden. Man muss nicht mehr zwingend physische Entfernungen überwinden, um kulturell bedeutsame Schätze anschauen zu können oder um historische oder literarische Kontexte zu sichten. Jedermann ist heute in der Lage, benötigte Informationen per Computer aus dem Internet oder über das eigene Smartphone herunterzuladen. Das Museum hat nicht mehr das Privileg, ein „Elfenbeinturm“ zu sein, sondern muss Menschen erreichen, Inhalte entsprechend lebensnah aufbereiten, ohne die erforderliche Qualität und Seriosität der Informationen zu vernachlässigen.

Unser Museum kann und will die Person und das Werk Erich Kästners im kollektiven Gedächtnis lebendig halten und vielen Menschen zugänglich machen. Dabei bleiben wir am Puls der Zeit, so wie es auch Kästner seinerzeit getan hat. Ein Museum, das - wie Erich Kästners Gebrauchslyrik - für jedermann im Alltag nutzbar, zeitlos und vielschichtig sein kann.

Aufgrund der hohen Besuchernachfrage haben wir daher 2011 unsere Öffnungszeiten erweitert und im 1.OG ein Lesecafé mit Museumsshop eröffnet. Für unsere zahlreichen Begleitveranstaltungen – Lesungen, Workshops, Vorträge, musikalisch-literarische Abende, Filmvorführungen und Gastausstellungen - bietet das neue Geschoss flexiblen Platz für bis zu 100 Gäste. Das Literaturhaus Villa Augustin wächst weiter.

Im Veranstaltungsbetrieb des Museums ist das um den Geburtstag unseres Namensgebers stattfindende Erich Kästner Museumsfestival immer ein besonderer Höhepunkt. In diesem Jahr freuen wir uns besonders, zum Festival die Erich Kästner Gesellschaft bei uns in Dresden zu Gast zu haben. Das ist nicht nur schön für Kästners Heimatstadt, sondern auch für unser Haus, das gern den persönlichen Kontakt zu den Mitgliedern der traditionsreichen Literaturgesellschaft wie auch zu seinen eigenen Mitgliedern im Förderverein pflegen möchte.
Unser Museum begnügt sich nicht mit seinem Sammlungsbestand: es hat Mitglieder im Förderverein, die wissenschaftlich zu Kästner arbeiten und zum Anwachsen der Rezeptionssammlung beitragen können. Das ist auch unsere Zukunft. Gemeinsam können wir viel erreichen: wie Kästners Emil und seine Freunde – gemeinsam sind wir stark! Wir können eine Plattform für den wissenschaftlichen Nachwuchs sein!

Das Museum ist eine Ausstellungsplattform, ein multimediales Portal zu Informatio-nen über Kästners Werk und Leben, es kann ein globales Schaufenster für jeden Wissenschaftler sein, der sich mit Kästner beschäftigt; ein Labor für Pädagogen und Didaktiker – und natürlich ein „Zuhause“ für jeden Kästner-Fan, ob alt oder jung, ob Kästner-Amateur oder Profi. Auch deswegen heißt unser Museum das interaktive mobile micromuseum®. Wir gehen auf Menschen zu.
Jedes Erich Kästner Museumsfestival hat ein Leitthema, das wir Kästner zum Geschenk machen. Der jeweilige Schwerpunkt wird durch eines der Piktogramme vorgegeben, die das micromuseum® für Erich Kästner pointiert beschreiben und die Philosophie des Museums präsentieren. In diesem Jahr heißt unser Thema: „Gegensatz und Widerspruch“, das dazu gehörende Piktogramm „Orangen und Zitronen“ fußt auf dem bekannten englischen Kinderreim „Oranges and Lemons“ aus dem 18. Jahrhundert. Nachstehend die Kurzfassung:

"Oranges and lemons", say the bells of St.Clement's"You owe me five farthings", say the bells of St. Martin's"When will you pay me?" say the bells of Old Bailey"When I grow rich", say the bells of Shoreditch"When will that be?" say the bells of Stepney"I do not know", says the great bell of BowHere comes a candle to light you to bedAnd here comes a chopper to chop off your head!Chip chop chip chop – The last man's dead.

Erich Kästner – ein Autor mit Gegensätzen und Widersprüchen. Süß und sauer? Verlockung und Gefahr? Tradition und Auflehnung. Das Nebeneinander gegensätzlicher Empfindungen und Haltungen ist wichtig für das Leben. Ein ständiges Austarieren von Kraft und Gegenkraft statt einseitiger Polarisierung. Was aber, wenn die innere Stabilität kippt? Wenn die Schutzhülle sich auflöst?
Für mich ist Kästner vor allem deshalb inspirierend, weil sein Werk nicht nur vergangene Gegenwart beschreibt, sondern ein Leser daraus auch Vieles für die Zukunft lernen oder nutzen kann, um seine Welt zu einem besseren Ort zu machen. Darin liegt aus meiner Sicht eine große Stärke in Kästners Werk: an Werte zu erinnern, die leicht und häufig in Vergessenheit geraten.
Kästners Texte sind im modernen Alltag gut verwendbar, denn er hat es verstanden, komplexe Themen in einfachen Botschaften zu vermitteln. Auch wenn unser Alltag heute anders aussieht als zu Kästners Lebzeiten: viele Probleme, Sorgen und Gefühle sind die gleichen geblieben. Kästner wollte Menschen erreichen und bewegte sich in seiner Arbeit auf der Höhe der Zeit, offen für neue Leitmedien und Genres, die er verwendet hat, um Menschen dafür zu gewinnen, dass sie nachdenklich werden. Dass er das sehr gut beherrschte, sieht man unter anderem daran, dass seine Romane noch heute Erfolgsgaranten für neue Verfilmungen, Buchauflagen und Interpretationen sind – sein Werk ist zeitlos, international bekannt und beliebt. Einige seiner Epigramme sind sogar zu „geflügelten Worten“ geworden! Und Erich Kästner hat ein modernes Museum bekommen, das zu seiner Komplexität passt.

Erich Kästner – ein Werk, ein Mensch der Gegensätze und Widersprüche
Da ist der Kinderbuchautor, der selbst schwer an der eigenen Kindheit zu tragen hatte. Da sind seine von ambivalenten Gefühlen geprägten, viel interpretierten Beziehungen zu Frauen und zu seiner Mutter. Da gibt es den Star-Autor und es gibt den im Verborgenen schreibenden Autor, der sich unter anderem Berthold Bürger nannte. Da sind die moralischen Prinzipien des Menschen und Schriftstellers Erich Kästner und es gibt den Autor, der (inoffiziell) in Goebbels Auftrag gearbeitet hat. Einen Kästner, der im Dritten Reich bleibt, weil er Zeuge sein möchte... Die Zeugnisse bleiben aus. Da ist ein Kästner, der als Autor mit seinen Romanen weltweit Kinder in den Bann zieht, ihnen zuhört, sie motiviert, Probleme selbst in die Hand zu nehmen, der sie ernst nimmt – und der selbst aber sehr „erwachsen“ lebte.

Dresden – eine Stadt der Gegensätze und Widersprüche
Vor jedem Festival zum Geburtstag Erich Kästners im Februar haben wir hier in Dresden noch einen anderen Jahrestag, der großen Einfluss auf die Stadt und ihre Bewohner ausübt: am 13. Februar jährt sich der Tag der Bombardierung Dresdens im 2. Weltkrieg. Kästners Beschreibung der Zerstörung einer der schönsten Städte Deutschlands ist bekannt. Im 4. Kapitel seines autobiographischen Romans „Als ich ein kleiner Junge war“ schreibt er:

„Ja, Dresden war eine wunderbare Stadt. Ihr könnt es mir glauben. Und ihr müsst es mir glauben! Keiner von euch, und wenn sein Vater noch so reich wäre, kann mit der Eisenbahn hinfahren, um nachzusehen, ob ich Recht habe. Denn die Stadt Dresden gibt es nicht mehr. Sie ist, bis auf einige Reste, vom Erdboden verschwunden. Der Zweite Weltkrieg hat sie, in einer einzigen Nacht und mit einer einzigen Handbewegung, weggewischt. Jahrhunderte hatten ihre unvergleichliche Schönheit geschaffen. Ein paar Stunden genügten, um sie vom Erdboden fortzuhexen. Das geschah am 13. Februar 1945.“

An eben diesem Tag ist es heute nicht möglich, zwanglos in der Stadt spazieren zu gehen wegen der geduldeten Präsenz der Rechtsradikalen, die in der Öffentlichkeit verharmlost werden. Dresden, eine weltoffene Stadt, schließt an diesem Tag für die Außenwelt und die eigenen Bewohner. Gegensatz und Widerspruch.
Geburtstage machen (erwachsene) Menschen meist nachdenklich. Wie hat wohl Kästner den Februar seinerzeit erlebt? Für den kleinen Jungen im damaligen schönen Dresden war der Anfang des Jahres sicherlich eine Zeit voller Erwartungen; Weihnachten lag noch in der Luft und der Geburtstag rückte heran. Später war der Jahresbeginn, insbesondere der Februar, vielleicht voller widersprüchlicher Erinnerungen für Kästner. In den Dreißigern muss er schon geahnt haben, dass sich die politische Stimmung in Deutschland auf ein Bücherverbrennungsklima zubewegt. Das Februar-Gedicht in „Die 13 Monate“ beginnt folgendermaßen „Nordwind bläst. Und Südwind weht. Und es schneit. Und taut. Und schneit. Und indes die Zeit vergeht, bleibt ja doch nur eins: die Zeit.“ Und dann, am 13. Februar 1945, kurz vor seinem 46. Geburtstag, wird Kästners Heimatstadt zerstört. Dazwischen passierte viel, Kästner ging ins innere Exil, arbeitete unter Pseudonymen. Zeuge zu sein, ein Daheimgebliebener, von Goebbels beauftragt, für Münchhausen ein Drehbuch zu schreiben. „Die Zeit ist kaputt, Christian“, lässt Kästner seinen Lügenbaron sagen – eine Art Vorspiel zur Zerstörung seiner Heimatstadt Dresden. Süß und sauer lagen nahe bei einander: Gegensatz und Widerspruch.

Neue Perspektiven – Gegensatz und Widerspruch
Als Museum, und besonders als eines der neuen Generation, sind wir neben den Aufgaben des Sammelns und des Bewahrens auch der Aufklärung verpflichtet. Interdisziplinär und Projekt bezogen arbeitet das „museum of tomorrow“. Eine permanente Auseinandersetzung mit dem Stoff, den wir ausstellen, ist gefragt. Unser Museum ist eine Hommage an den großen Autor Erich Kästner - wir lassen ihn nicht in Ruhe! Ständig suchen wir weiter, um Kästner aus anderen Blickwinkeln und Sichtweisen zu betrachten, Denkimpulse für die Forschung zu geben, neue Sichtmöglichkeiten anzustoßen. Eine interessante Querverbindung findet sich beispielsweise zu Kurt Vonnegut, der in seinem Dresden-Roman „Slaughterhouse 5“ von der Vergänglichkeit, der Fragilität und dem Größenwahn der Menschheit spricht, symbolisch eingefangen in der Zerstörung eines Stadt und ihrer Porzellangegenstände. Kästner schreibt in seinem 1946 für die Schaubude verfassten „Spielzeuglied“ über das Kind, das sein Spielzeug kaputt macht, „Der Knabe haut und boxt und schlägt begeistert darauf ein. Und wenn's auch sehr viel Mühe macht, am Ende, am Ende, am Ende kriegt er's klein.„ Beide Autoren sprechen das gleiche Thema an: Zerstörtes kann nicht repariert werden. Es lässt sich nicht mehr nahtlos zusammenfügen. Dresden wurde zerstört. Kann man Dresden wieder aufbauen? Wann fing die Zerstörung an? Mit der Bücherverbrennung? Die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Jede Handlung hat Konsequenzen und lässt sich nicht ungeschehen machen. „Und aus welchem Stoff sind wir?“ fragt Kästner in seinem Gedicht Februar. Tolerant, weltoffen?

Im 35.Mai schafft Erich Kästner für Kinder eine Vision von Morgen: Science Fiction –aber das Gegenbild ist immer sehr nah, da müssen wir aufpassen…

Weil wir Erich Kästner zu jedem Geburtstag ein Geschenk machen möchten, auch in Form einer Hommage anderer Autoren an ihn, gibt es 2012 im Sinne des kritischen Kästnerschen Blicks eine Betrachtung literarischer und realer Dystopien. Die Anti-Utopien George Orwells in 1984 und Kurt Vonneguts in Slaughterhouse Five werden im Rahmen des Museumsfestivals verknüpft mit einem ganz aktuellen Thema: durch die „Zwickauer Zelle“ wurde einmal mehr klar, dass dieser 13. Februar symbolisch ein Tag für ein tolerantes Denken werden muss und sein kann! Mit der Überzeugung, einen Beitrag zu Kästners unvollendeter Zeitzeugenschaft zu leisten, setzt sich sein Museum in Dresden für Toleranz und Vielfalt und gegen die Angst vor „Fremden“, vor anders Aussehenden, anders Denkenden, anders Sprechenden ein. Denn das Gegenbild, das Resultat von Wegsehen wäre sonst womöglich Orwells 1984. Also, gemeinsam statt einsam ! Museum und Gesellschaft zusammen.

Ich wünsche Ihnen / Euch und uns allen eine angenehme Zeit in Dresden mit spannenden Gesprächen und konstruktivem Austausch.

Ruairí O‘Brien
Vorstandsvorsitzender

1 comment:

  1. Fein, so eine lebendige Auseinandersetzung mit Kästner! Toll, dass es das hier gibt.

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